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Geschichte von Joe Pilates

Learning to be an Animal

Es gibt eine fröhliche Gruppe von Menschen – zu der ich mich als angehendes Mitglied zähle –, die sich durch ihren federnden Schritt und ihr «gerettetes» Erscheinungsbild von der breiten Masse abhebt. Die anderen hingegen bewegen sich langsam und schwerfällig an uns vorbei. Wir wissen, dass wir «gerettet» sind, denn wir nehmen treu und mit Begeisterung an den anstrengenden, aber belebenden Lektionen im Joseph H. Pilates Universal Gymnasium in der Eighth Avenue in Midtown Manhattan teil.

Hier ist es, wo Joe Pilates, ein weisshaariger, rotbäckiger Achtzigjähriger, seine Frau Clara und Instruktorin Hannah (die vor 25 Jahren zu einer Stunde kam und geblieben ist) ihre strengen Befehle brüllen. Währenddessen kämpfen wir uns stöhnend durch die Übungen, die das Herzstück dessen sind, was Joe in seinem typisch deutschen Stil «Contrology» nennt – eine kontrollierte Form des Trainings.

Frag mich nicht, was Contrology ist. Frag auch Joe nicht, denn eine passende Erklärung gehört nicht zu seinen Talenten. Es hat etwas mit rationaler Spannung und Entspannung der Muskeln zu tun und beruht auf einem tiefgehenden Wissen über Körperbewegungen. Dies begann vor dreiviertel Jahrhunderten, als Joe als Kind in Deutschland seine Spielkameraden und Tiere beobachtete, die durch den Wald sprangen. Später, als er seinen Lebensunterhalt als Boxer und Zirkusturner verdiente, begann er, eine Reihe von Übungen zu entwickeln, die ihn nach einem erschöpfenden Tag entspannen sollten.

Die umfassenden Prinzipien der Contrology wurden ihm während des Ersten Weltkriegs offenbart. Als 1914 der Krieg begann, wurde sein Zirkus in England festgehalten. Joe, sowie alle anderen wurden in einem verlassenen Krankenhaus auf der Isle of Man eingesperrt.

Während Wochen zu Monaten und Jahren wurden, sah er, wie seine Mitgefangenen in Apathie und Verzweiflung versanken. Sie hatten nichts zu tun, ausser auf die kargen, bröckelnden Mauern ihres Gefängnisses zu starren. Der Alltag war langweilig, nur unterbrochen durch die schlechten Mahlzeiten – weil die deutsche U-Boot-Blockade England langsam hungern liess. Manchmal gab es auch Spaziergänge über den kahlen Hof, auf dem ausser einer dünnen Katze, die einer Maus oder einem Vogel nachjagte, nichts zu sehen war.

Es waren die Katzen, die den Ausschlag gaben. Obwohl sie nichts als Haut und Knochen waren. Selbst die tierliebsten Gefangenen konnten ihnen kaum etwas von ihren eigenen mageren Rationen abgeben, weil ihre eigenen Kinder um Nahrung bettelten. Trotzdem waren sie geschmeidig, federnd und effizient, wenn sie auf ihre Beute zielten. Warum waren die Katzen so gut in Form und helläugig, während die Menschen jeden Tag blasser, schwächer und apathischer wurden? Sie waren bereit aufzugeben, wenn sie sich erkälteten oder sich beim Hinfallen den Knöchel verstauchten.


Als Joe begann, die Katzen sorgfältig zu beobachten und ihre Bewegungen stundenlang zu analysieren, erkannte er die Antwort. Wenn sie nichts anderes zu tun hatten, streckten und dehnten sie ihre Beine, so hielten sie ihre Muskeln geschmeidig und lebendig. Joe entwickelte daraufhin eine geordnete Reihe von Übungen, um alle menschlichen Muskeln zu dehnen. Er zeigte die Übungen den niedergeschlagenen Menschen um ihn herum. Da sie nichts anderes zu tun hatten, begannen sie ebenfalls mitzumachen. Anfangs waren sie unbeholfen und zaghaft. Doch unter Joes fester Aufsicht wurden sie immer selbstbewusster und geschmeidiger – wie die Katzen. Am Ende des Krieges waren sie in besserer Verfassung als zu Beginn. Als die grosse Grippeepidemie über all die kriegführenden Länder hinwegfegte, wurde keiner von ihnen krank. 

Als er frei war, kam er nach Amerika. Dort sollte man sein, wenn man eine neue Idee hat. Er entwarf und baute Geräte für genau abgestimmte Dehnübungen. Dann mietete er ein Loft und eröffnete sein Universal Gymnasium. Es lag die Strasse hinauf von Stillman’s Gym, einer bekannten Einrichtung mit dem Schwerpunkt auf klassisches Fitnesstraining. Nach und nach sprach sich dies herum. Immer mehr Leute kamen – vor allem solche, die ihren ganzen Körper genau kontrollieren mussten: Balletttänzer, Opernsänger, Laurence Olivier und Yehudi Menuhin.

Als ich zu dieser Gruppe stiess, begrüsste er mich wie jeden anderen auch. Er legte sich auf seinen achtzigjährigen Rücken und befahl: «Tritt auf mich.» Ich zögerte. «Hab keine Angst», sagte er. «Tritt!» Vorsichtig setzte ich einen Fuss auf seinen Bauch, den anderen auf seine Brust. «Siehst du», sagte er. «Es ist ganz einfach.» Später stand ich in der vorgeschriebenen, schwarzen Badehose vor ihm und er tippte mit einem Finger in meine blosse Haut.

«Typisch», sagte er in einem markanten Tonfall. «Genau wie alle Amerikaner! Sie wollen 600 Meilen pro Stunde fahren und wissen nicht einmal, wie man richtig geht! Schauen Sie sich die Leute auf der Strasse an: gebückt, hustend, junge Männer mit grauen Gesichtern! Warum können sie nicht die Tiere beobachten? Schauen Sie sich eine Katze an. Schauen Sie sich irgendein Tier an. Das einzige Tier, das seinen Bauch nicht einzieht, ist das Schwein. Und jetzt schauen Sie sich all die Menschen auf dem Bürgersteig an – wie Schweine.»

«Indem du deine Bauchmuskeln trainierst, stärkst du deinen Körper, du wirst nicht erkältet, bekommst keinen Krebs und keine Leistenbrüche. Bekommen Tiere Leistenbrüche? Machen Tiere Diäten? Iss, was du willst, trink, was du willst. Ich trinke einen Liter Schnaps am Tag, dazu ein paar Biere, und rauche vielleicht fünfzehn Zigarren.»

«Und was machen die Amerikaner? Sie spielen Golf, sie spielen Baseball. Sie benutzen nur die Hälfte oder ein Viertel ihrer Muskeln. Sie werden dick, joggen, machen verrückte Diäten, stürzen sich in noch verrücktere Übungen, klagen über Schmerzen – und bekommen am Ende Hernien.»

«Also, du willst lernen, es besser zu machen? Es liegt alles hier oben, im Kopf. Leg dich auf die Matte. Nicht einfach plumpsen, geh sanft runter, Arme verschränken, Beine überkreuzen. Jetzt, Beine in die Luft! Greif deine Knöchel! Natürlich kannst du sie nicht erreichen, kein Amerikaner kann das. Gut, dann greif deine Waden. Mach es zu deinen Knien. Knie durchstrecken! Vorbeugen! Jetzt greifen! Nein, du musst zuerst denken! Denk nach! Hoch!» Es kann Monate dauern, genau zu lernen, welche angespannte Muskel- und Sehnengruppe mit diesem «Hoch!» gemeint ist.

Inzwischen steht der Neuling ständig unter den verächtlichen Blicken oder ermutigenden Grunzlauten anderer und lernt die Pilates-Grundlagen, die verschiedenen Zieh-, Dreh-, Beuge- und Hockbewegungen, von denen Joe sagt, dass sie 25 Prozent mehr Muskeln beanspruchen als Zirkusakrobatik und fünfzig oder fünfundsiebzig Prozent mehr als Baseball (pfui!) oder Golf (doppeltes Pfui!). Kein Springen oder Rennen, welches das Herz unnötig belastet. Tatsächlich wird fast alles flach auf dem Rücken oder Bauch ausgeführt. Keine Gewichte («Heben Tiere Gewichte?»). Keine aufgepumpten Bizeps – Joe interessiert sich mehr für Muskeln, die dich aufrecht halten, als für solche, mit denen du einen anderen umhauen kannst. Die Übungen sind abgestuft und haben skurrile Namen: der Teaser, das Vorwärtswippen, die Säge, das Hängen.

Von den Wänden des Gyms hängen Gemälde, Fotografien und Skulpturen von Joe, nackt oder nur mit Lendenschurz: Speerfischen mit 56, die Darstellung des Geistes der Luft auf dem Boden der Staatskapelle von Nebraska mit 60, Skifahren mit 78. Es gibt auch Fotos mit bewundernden Widmungen («Dem Grössten», dem einen und unsterblichen Joe) von angesehenen Alumni, sowie Fotokopien von Artikeln amerikanischer Zeitungen. Sie dokumentieren die Schrecken der amerikanischen Haltung. Durch schweissbefeuchtete Augen, während man kopfüber an einem Gerät hängt, kann man vielleicht einen berühmten Verleger, Produzenten oder Nachrichtensprecher sehen, der sich auf einem anderen Gerät krumm macht. Sie alle bekommen die volle Ladung der Pilates-Philosophie zu spüren.

«Es ist die Steifheit. Du musst die Brust mehr öffnen, zwei Zoll mehr. Hoch! NEIN! Mit diesem Muskel» – er stupste eine Wölbung an seiner Körpermitte an, die bei dir oder mir niemals auftauchen wird – «Streck die Knie! Wo willst du hin – wie ein Elefant?»

«Oh Joe», klagt eine berühmte Ballerina. «Jetzt nennst du mich auch noch einen Elefanten.»

«Ich würde den Elefanten nicht beleidigen. Ein Elefant könnte in diesen Raum treten und du würdest ihn nicht hören. Ein Elefant geht zartfühlend. Aber du – dumpf, dumpf, DUMPF! Amerikaner! Baseballspieler! Jogger! Gewichtheber! Kein Wunder, dass sie mit Arthritis zu mir kommen! Magengeschwüre! Tiere haben keine Magengeschwüre! Tiere machen keine Diäten! Streck die Knie! Luft raus!»

Die Zeit vergeht – du drehst dich, streckst dich, kämpfst dich durch Übungen mit Namen wie «Korkenzieher», «Taschenmesser» oder «Robbe». Günstig ist das Ganze nicht (5 Dollar pro Einheit à 45 Minuten), aber wenn du zwei- bis dreimal pro Woche kommst, werden aus ein paar Wochen schnell Monate. Die Anstrengung bleibt, doch mit der Zeit mischt sich zwischen all die Erschöpfung auch gelegentlich ein anerkennendes Nicken oder ein lobendes Wort. Clara, die freundliche Begleiterin, bewundert deine neue schlanke Linie. Und Hannah, eher wortkarg und direkt, sagt nur: «Wurde auch Zeit.»

Vielleicht gehst du jetzt sogar mit erhobenem Kopf durch die Strasse – über all die müden, grauen Gesichter hinweg. Schmerzen und Zwicken verschwinden. Ein Tag kommt, an dem du deine Knöchel ordentlich in zwei Schlaufen schwingen kannst, die von einer Stange da oben hängen. Du streckst deinen Körper und bekommst einen festen Griff an zwei senkrechten Stangen – kletterst hoch. Du erreichst die Spitze mit freudigem Grunzen und rufst plötzlich vor Schrecken: «Wie komme ich wieder runter?» «Auf die gleiche Weise, wie du hochgekommen bist.» Hand über Hand kommst du runter, mit Keuchen und Stöhnen und einem letzten Jubelschrei. In der Stille danach brüllt Joe seine letzte Auszeichnung heraus:

«Now you are an animal»